HOME

Das Geheimnis des Faun

Ein Märchen von Arba Misamim









Das Geheimnis des Faun

Die Alte lebt im Wald, abseits von den Hütten des Dorfes. Sie hat es selbst so gewählt, weil sie die Ruhe liebt, weil es genug Bewegung und Geräusche in ihrem Leben gegeben hat. Früher einmal war sie eine Wanderin gewesen, hatte Wälder und Berge durchstreift, Flüsse und Seen gekost und Stürme gekostet. Vielen verschiedenartigen Menschen war sie begegnet, war ihnen nah gekommen, manche waren ein Stück mit ihr gewandert, sie hatte geliebt und Abschied genommen. Oh, die Glut lodert noch in ihrem Herzen, sie liebt die Menschen.
Aber sie liebt es auch, an lauen Sommerabenden auf der Bank vor der Hütte zu sitzen und den abgründigen Nachthimmel zu betrachten, wo die Sterne ihre unbegrenzten Bahnen ziehen. Sie liebt das Wispern in den Zweigen und den wilden Schrei des Käuzchens, wenn es über die Wipfel fliegt.
Es ist schon einige Jahre her, seit sie sich bei diesem Dorfe niedergelassen hat. Die Menschen sind ihr zunächst misstrauisch begegnet. Sie aber hatte eine freundliche Art, plauderte mit den Alten, neckte die Kinder, und so litten sie ihr Dasein.
Die Kinder waren es, die zuerst zu ihr kamen. Sie knabberten das knusprige braune Brot, schauten zu, wenn sie im Haus hin und herging, lauschten ihren Gesängen, die sie noch von vor der Zeit her kannte. Mäuschenstill saß:en sie, wenn Lorraine Geschichten erzählte; Geschichten, die einst der Groß:vater überliefert, wie einmal alles angefangen hat, wie die Menschen lernten, als Menschen zu leben und miteinander umzugehen. Geschichten auch, die ihr das Volk unterwegs erzählt hat, von dessen Leben weit jenseits der Hohen Berge.
Einmal in sieben Tagen trafen sich die Alten auf dem Dorfplatz. Dorthin ging Lorraine und lauschte den Geschichten des Dorfes. Sie hörte von dem Berg, der in früheren Jahren Feuer und Asche gespien und groß:e Not für die Menschen im Dorf gebracht hatte. Sie erfuhr, wie vor langer Zeit ein kriegerisches Heer vorbeigezogen, das Dorf geplündert, viele der Männer rekrutiert oder getötet, und den Frauen Gewalt angetan und verschleppt hatte. So schlimm war es gewesen, daß: heiratsfähige Jungfrauen auf der Suche nach einem Bräutigam in das Land hinter den Groß:en Seen ziehen muß:ten, und fremde, dunkle Burschen mit nach Hause brachten. Sie hörte all diese Geschichten und nahm sie in sich auf.
Ein alter Jäger, der als junger Mann viel durch die Wälder gezogen war, pflegte wirre Geschichten zu erzählen: Von den Faunen, von Trollen und Elfen, die auf Mondwiesen tanzten. Davon hielt Lorraine nichts. Wenn es wirklich solche geheimnisvollen Wesen gab, schwieg man besser davon.
Dann kamen die Jungen des Dorfes zu ihr heraus. Schüchtern, allein oder zu zweien betraten sie die Hütte unter der knorrigen Kiefer. Lorraine lebte weit genug vom Dorf entfernt; zögerlich stellten sie Fragen, erzählten, was sie bedrückte. Sie hätten zum Dorfältesten gehen können, das hatten Generationen vor ihnen getan. Der aber hatte seit damals immer die gleichen Antworten: „ Hört auf das, was die Alten sagen, bringt die vorgeschriebenen Opfer.“
Lorraine aber hörte zu. Und da sie in ihrem Leben schon so vielen Menschen begegnet war, suchte sie sorgfältig und behutsam ihre Antworten, oft mehrere Antworten, verhüllt in einer Geschichte. Sie war der Ansicht, es gebe nicht eine Antwort auf eine Frage, sondern ganz verschiedene, je nach der Person die fragte und den Umständen, aus denen eine Frage entstand.
So kamen sie sich nah, und die Jungen lernten zuzuhören, und hinzuschauen und sie erfuhren, daß: ihre Gedanken wert waren, gedacht zu werden. Lorraines Liebe floss zu den jungen Menschen, und wenn sie sich darin spiegelten, sahen sie, daß: sie schön waren.
Die Leute im Dorf erzählten sich, daß: die Jungen zum Haus im Wald gingen; manch einer wurde wieder miß:trauisch, flüsterte hinter vorgehaltener Hand: „Sie wird sie behexen.“ Aber sie begriffen bald, daß: kein Schaden entstand, beruhigten sich und begannen gut zu denken: „Wenn die Jungen jemand haben, dem sie zuhören und der die alten Geschichten erzählt; jemand, der auch ihnen zuhört, dann nutzt es allen.“ Und gingen wieder ihrem Tagwerk nach.
Das ist nun eine lange Zeit her. Lorraine zupft das Unkraut im Gemüsegarten und denkt dabei nach. Manchen hat sie so begleitet, hat die Auflehnung der jungen Jahre erlebt, die Frage nach dem Warum und Wohin, das Suchen geteilt. Oftmals bis spät in die Nacht nach Sinn und Unsinn gemeinsam gefragt. Die erste Liebe mit durchlitten. Und über Nacht waren sie dann verschwunden, erwachsen geworden.
Später traf sie den einen, die andere wieder, herangereifte Menschen, die ihren Weg gefunden hatten. „Und doch“, denkt sie, „manche Fragen werden sie nie vergessen“. Gut so.
Sie hat erlebt, daß: junge Menschen ihre Liebe fest und rein erwiderten. Sie waren offen füreinander und manchmal sahen die Jungen hinter Lorraines gleichmütigem Gesicht sogar den Kummer, der dort zu Zeiten wohnte und die Tränen. So hatte sie Freunde gefunden, stets auf Zeit, doch treu und aufrichtig.
Es hat Lorraine immer wieder erstaunt, wie solche groß:en Kinder, die sie ja noch waren, auch mit Schwerem umgehen konnten, und zu welcher Tiefe der Gedanken sie fähig waren. Und im nächsten Augenblick sind sie wieder lustig, ausgelassen, dreist manchmal. Wie stolze Pfauen paradieren die Jünglinge vor den Mädchen, schlagen das Rad, lassen die bunten Federn glänzen. Und sind doch oft rast- und hilflose Sucher. Weinend sitzen sie, wenn das erwählte Mädchen andere Wege geht. Lorraine liebt sie alle.
Lorraine streckt sich, der Rücken tut ihr weh. Sie wird das Unkraut für heute vergessen, Tee trinken und ein Pfeifchen rauchen.
Da sitzt sie vor der Hütte, der Mond gieß:t milchiges Licht auf die taubenetzte Wiese. Spätsommer ist, Nebelschleier wabern aus dem Gras, schlingen um die Baumstämme. Sie starrt in die weiß:lichen Schwaden, in Erinnern versunken, sinniert. Da tritt zwischen den Bäumen der Faun hervor, tanzt zierlich im Dunstlicht der Nebel. Deutlich sieht sie seine schlanke Gestalt, sein bleiches Gesicht unter dem schwarzen Schopf. Einen Kranz aus lila Blüten trägt er im Haar, wiegt seinen Körper im Takt einer lautlosen Melodie.
Bezaubert schaut die Alte. Da tanzt er auf sie zu, streckt ihr seine dunkle Hand entgegen. Selbstvergessen erhebt sie sich, geht ihm entgegen. Doch der Faun erschrickt und läuft davon.
Sie steht auf der Lichtung, wie zuvor wirbeln die Nebel schimmernd im Mondenlicht, neigen die Bäume ihre schwarzen Häupter. Langsam geht sie zurück zur Hütte, streicht sich mit der Hand über die Augen, um den Zauber fortzuwischen. Sie löscht das Licht und geht zu Bett. Diese Geschichte wird sie nicht erzählen.
Die Zeit geht. Es kommen Tage voller Grau und Kälte. Lorraine backt knuspriges, braunes Brot, doch die Kinder kommen nicht. Sie stampft das Kraut, dörrt das Obst. Am siebenten Tag geht sie ins Dorf. Wenige Alte sind auf dem Platz, es ist kalt und nass, und kein Wetter für Geschichten. Lorraine schaut die Menschen an, sie sind alt, gebeugt, so wenig lebendig. Leichtfüß:ig geht sie zum Bauern, tauscht Heilkräuter gegen Milch und wandert heimwärts. In den nächsten Tagen macht sie den Käse und die Butter.
Da kommt die Sonne wieder hervor zu einem langen Abschied von den wärmenden Strahlen. Lorraine beschneidet Sträucher und Bäume, deckt die Beete ein, gibt die Möhren in ihr kühles Bett im Sand.
Ein letzter Abend auf der Bank vor der Hütte, das Wolltuch um die Schultern. Höher wabern die Nebel, weiß:er scheint der Mond. Sie sitzt und träumt.
Da, zaghaft hinter einem Baum, wieder der Faun. Langsam, langsam betritt er die Lichtung, bewegt sich die biegsame Gestalt, Efeu in seinem Haar. Er erreicht die Mitte, zögerlich, doch immer freier, schöner wird sein Tanz, näher und näher, betörend in seiner Unschuld. Er dreht sich und für einen Augenblick sieht sie seine Augen: sternklares Blau, unter schwarzem Schopf.
Und er tanzt auf sie zu, streckt ihr seine dunkle Hand entgegen. Selbstvergessen die Frau, selbstvergessen der Faun: So begegnen sie sich auf der Wiese. Sie fügen sich in die wabernden Nebel, im silbrigen Schein des Mondes tanzen sie zu einer lautlosen Melodie.
Und siehe, das Mondenlicht erwärmt ihre Seelen und die Nebelschleier hüllen sie ein. Nicht mehr läuft der Faun davon, dieser Tanz schlägt auch ihn in seinen Bann. Sie tanzen in den Morgen, und nur die Nacht weiß: ihre Geschichte zu erzählen.
Mit dem Frühdämmerlicht entschwindet er, schattenhaft bleiben die Bilder.
Lächelnd geht Lorraine in der Zeit und wahrt das Geheimnis.

© Arba Misamim
Januar 2000
EMAIL:  Arba Misamim
Gästebuch / Guestbook
zurück